Markus Behrendt erzählt uns in einem authentischen Lebensbericht von seiner persönlichen Geschichte im Autismus-Spektrum:
Ich erinnere mich gerne an eine Situation in meinem Kinderzimmer. Die dunklen Vorhänge waren zugezogen, doch hier und da schien noch etwas Tageslicht hinein. Es war nachmittags und ich sollte ein wenig schlafen. Nachdem meine Mutter den Raum verlassen hatte, schweifte mein Blick durchs Zimmer.
Da stand schräg gegenüber ein großer Kleiderschrank mit weißem Korpus und grünen Türen. Obendrauf stand die rote Kiste mit den bunten Bauklötzen. Ich war erst wenige Wochen alt und lag in der Wiege. Es war so ein schöner, ruhiger und friedlicher Moment. Es gab noch kein Gestern, noch kein Morgen. Es gab nur das Jetzt. Da ahnte ich noch nicht, wie bedeutsam und prägend dieser Moment für mich im Verlauf des Lebens noch sein würde.
In einer anderen Erinnerung hat mich mein Vater zu einem Arbeitskollegen mitgenommen. Ich war zwar immer noch ein Säugling, erfasste aber neugierig alles, was um mich herum geschah. Die Frau des Arbeitskollegen nahm mich entgegen, was ich ziemlich befremdlich fand. Ich kannte die Frau ja nicht und sie roch sehr nach Parfum. Plötzlich ein Höllenlärm! Noch nie in meinem Leben habe ich so ein lautes Geräusch gehört! Es war unerträglich! Ich fühlte mich hilflos, nein, eher panisch, und hätte gern mitgeteilt, was mich gerade störte, damit mich jemand davor beschützen konnte. Doch ich konnte nur schreien. Die fremde Frau versuchte mich zu trösten, jedoch vergebens. Das war der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich unbedingt sprechen lernen musste!
Noch heute weiß ich genau, wie der Arbeitskollege hieß, wie dankbar er für die Hilfe meines Vaters war und was er ihm dafür geschenkt hat. Ich erinnere mich noch gut an die Abschiedssituation und wie erleichtert ich war, als wir gingen.
Mit neun Monaten fing ich an zu sprechen. Ab da gab es kein Halten mehr.
Mit drei Jahren kam ich in den Kindergarten. Eigentlich freute ich mich darauf, nach allem, was meine Eltern mir darüber erzählt hatten. Doch mein erster Tag war echt schlimm. Meine Eltern verabschiedeten sich und meinten, sie kämen später wieder. Doch daran konnte ich noch nicht so recht glauben. Dann waren sie weg und ich saß auf einem Stuhl, allein, inmitten zahlreicher fremder Kinder. In meinen Fingern drehte ich unentwegt ein kleines, zylinderförmiges Bauklötzchen. Ich war verzweifelt und weinte! Nach kurzer Zeit kam ein Mädchen und wollte mich beruhigen. Doch ich kannte das Mädchen nicht und fand es eher störend, dass sie mich ansprach. Ich fühlte mich so verloren! Nach einiger Zeit des Weinens fragte ich mich, wie lange ich das wohl machen müsste und ob ich aufhören könnte zu weinen?
Ich verkürze das ein bisschen, sonst wird der Text zu lang. Es gibt noch zahlreiche schöne wie irritierende Erinnerungen aus meiner Zeit als Kleinkind und einige davon sind rückblickend wirklich amüsant.
Einige Jahre später folgte die Einschulung. Endlich durfte ich lesen, schreiben und rechnen lernen! Endlich, endlich! Das wollte ich schon die ganze Zeit. Doch dann die Ernüchterung: Den ersten Schultag brachte ich noch einigermaßen gut hinter mich. Es war so viel Gewusel und mir war völlig unklar, was wann warum etwas geschehen würde. Doch ich hielt durch und brachte das ganze Programm hinter mich; immer in Sorge, in all dem Trubel meine Eltern aus den Augen zu verlieren. Ich erkannte sie doch so schlecht wieder, wenn so viele Leute da waren!
Zu Hause dann der Zusammenbruch. Erst war ich am Weinen, danach wie weggetreten. Zumindest wirkte das von außen so. Denn in meinem Kopf war ganz viel los, während ich zusammengekauert im Garten hockte und Sand rieseln ließ. All die Eindrücke des Tages suchten eine Einordnung. Schule war so anstrengend, wie sich im weiteren Verlauf zeigte! Und damit meine ich nicht die Schulfächer, die fand ich sogar eher langweilig. Vielmehr machte mir die Vielzahl der anderen Kinder zu schaffen, die Lautstärke, das Gewusel und angerempelt zu werden. Berührungen mochte ich nicht, schon gar nicht wenn sie so zahlreich und unvorhersehbar waren.
So nahm der Stress deutlich zu. Ich entwickelte allerlei Strategien, um mit der Vielzahl der Probleme zurecht zu kommen. So musste ich immer der erste sein, noch vor allen anderen. Dadurch verschaffte ich mir zumindest ein kleines Stück der dringend benötigten Sicherheit. So war ich der erste am Klassenraum, nach dem Aufschließen der erste in der Klasse, zum Schulschluss der erste beim Verlassen des Klassenraums, nein, des ganzen Schulgebäudes! Denn aus den anderen Klassenräumen kamen ja dann auch Kinder und auf gar keinen Fall wollte ich mich mitten im Getümmel wiederfinden. Jeden Tag rannte ich gefühlt um mein Leben, jeden Tag so weit, bis ich nicht mehr konnte, um ja genügend Abstand zwischen mir und den anderen zu haben. Eine Pause machen ging nicht, ich musste weiter, immer weiter, um jeden Preis. In der Folge entwickelte ich Angst vor anderen Kindern und wäre am liebsten zeitweise unsichtbar gewesen.
Hinweis: Der nächste Absatz kann sehr belastend sein. Wenn Du Dich gerade nicht stabil fühlst, lies jetzt nicht weiter. Lies erst weiter, wenn Dir danach ist oder Du Unterstützung hast. Die Telefonseelsorge erreichst Du zu jeder Zeit unter Tel. 0800 111 0 111 oder im Internet unter www.telefonseelsorge.de. In akuten Fällen wähle die 112.
So kam es, dass ich mit etwa acht Jahren abends in meinem Bett lag und sehr ernsthaft darüber nachdachte, nicht mehr leben zu wollen. Ja, ich wollte wirklich sterben! Und mit diesem Gedanken war ich ganz allein. Denn es war mir viel zu persönlich, um anderen davon zu erzählen. Außerdem ahnte ich, dass dann, wenn jemand davon erfuhr, alles nur noch schlimmer würde als es ohnehin schon war. Die Angst vor Schmerzen beim Sich-töten oder dass mein Suizidplan nicht funktioniert und auch dadurch alles noch schlimmer würde, hielt mich schlussendlich davon ab, es überhaupt zu versuchen. So lebte ich weiter, Tag für Tag, erfüllt von Ängsten und Traurigkeit und dem drängenden Gedanken, mich umbringen zu wollen.
Meine Eltern scheinen in dieser Beschreibung zwar keine nennenswerte Rolle zu spielen, doch in Wirklichkeit waren sie für mich die wichtigsten Menschen. Sie taten alles Erdenkliche, setzten alle Hebel in Bewegung, versuchten passende Wege zu finden und unterstützten mich bei all meinen Vorhaben. Doch damals konnte ich das noch nicht sehen. Und das spiegeln meine Eindrücke von damals wider. Daher an dieser Stelle ein nachträgliches, riesengroßes Danke an meine Eltern! Ihr ahnt nicht, wie sehr Ihr mir geholfen habt, das alles durchzustehen. Es hätte für mich keine besseren Menschen geben können!
Es geht erneut einige Jahre weiter in meiner Erzählung. Zwischenzeitlich bin ich auf die weiterführende Schule gewechselt. Die Strategien, die in der Grundschule am Wohnort noch funktionierten, versagten an der viel größeren Schule des Nachbarortes kläglich. Es war eine schwere Zeit. Aber gleichzeitig wirkt es rückblickend so, als sei ich währenddessen stärker geworden. Also nicht merklich, sondern gerade so viel, dass ich die zunehmende Belastung nicht als Steigerung wahrnahm. Denn stark in dem Sinne fühlte ich mich damals nicht. Im Gegenteil: Mein Selbstwertgefühl ging gegen Null. Alle schienen etwas zu können, das ich nicht konnte. Sie wussten offenbar, wie man mit anderen Kontakt aufnahm, sich austauschte und anfreundete. Auf mich wirkte das wie ein Geheimbund, dem ich nicht angehörte.
Zusätzlich kam ich in die Pubertät und machte die Erfahrung, dass intensivere und komplexere Emotionen alles noch komplizierter machten. In mir sammelte sich weiterhin sehr viel Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass alles so wahnsinnig anstrengend war, und dass ich mein Leben wahrscheinlich nicht so leben könnte, wie ich es mir wünschte. Zu jener Zeit machte ich mir auch Gedanken über die Liebe. Denn ich war verliebt in eine Klassenkameradin, doch ich wusste nicht, was ich tun sollte. Gleichzeitig konnte ich mir nicht vorstellen, mit einem Mädchen Nähe und Intimität zu erleben. Das passte irgendwie nicht. Gut vorstellen konnte ich mir Nähe und Zärtlichkeit hingegen mit einem Jungen. Das war alles sehr verwirrend. – Und auch dieses Thema war mir zu persönlich, um darüber mit jemandem zu sprechen.
Alles mit sich selbst ausmachen zu müssen ist echt hart! Dass ich den Eindruck hatte, mit niemandem über meine Gedanken, Empfindungen und vor allem die große Not reden zu können, hatte mit meinen bisherigen Erfahrungen zu tun. Mich verstand einfach niemand! Zeitweise dachte ich sogar daran, auf diesem Planeten falsch zu sein und dass irgendwann ein Raumschiff kommen würde, um mich abzuholen und dorthin zu bringen, wo ich eigentlich hingehörte. Das Asperger-Syndrom, welches später bei mir diagnostiziert wurde und Teil des Autismus-Spektrums ist, wird auch als Wrong-Planet-Syndrom bezeichnet. Denn schon zahlreiche Autisten sind zu dieser oder einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt.
Ein Klassenwechsel innerhalb der Schule hat die Situation für mich deutlich verbessert. Aus einer Klasse mit Alphatieren, die, um es mal nett zu formulieren, wenig sozial veranlagt waren, kam ich in eine Klasse mit sozialen Jugendlichen. Welch ein Unterschied! Mir ging es allmählich besser, auch wenn Schule für mich immer noch bedeutete, am falschen Platz zu sein. Meine Noten spiegelten das auch wider, mit Ausnahme der naturwissenschaftlichen Fächer. Meine Versetzung war ständig gefährdet. Zudem hatte ich an vielen Inhalten kein Interesse. Kurvendiskussion wird mir später nicht bei der Steuererklärung helfen, das war mir schon klar.
Ungefähr zu dieser Zeit erwachte mein Interesse für soziale Interaktion und Kommunikation. Das wollte ich auch können!
Im Verlauf der zehnten Klasse beschloss ich, das Kapitel Schule abzuschließen. Meine anschließende Berufsausbildung barg gleich zu Beginn eine interessante Erfahrung: Vom Klassenletzten wurde ich innerhalb eines halben Jahres zum Klassenbesten. Das Thema lag mir, die anderen waren älter und reifer als noch zu Schulzeiten und das Ganze hatte nun auch einen praktischen Sinn. Die unausgesprochene Suizidalität meiner Kindheit und Jugendzeit geriet in Vergessenheit – oder ich habe sie zusammen mit dem Ozean der Traurigkeit allmählich verdrängt. Das weiß ich nicht so genau. Das Außenseiterdasein wurde zunehmend von sozialen Kontakten abgelöst, auch wenn mich die anderen zweifelsohne als Nerd empfanden. Aber ich konnte gut und geduldig erklären und das wurde von meinen Berufsschulkolleginnen dankbar angenommen. So lernte ich von ihnen, wie man Kontakt aufnimmt, ohne dass ich etwas dafür tun musste, während sie von mir das Fachliche vermittelt bekamen. Gespräche über Sachthemen fand ich ohnehin einfacher. Eine echte Win-Win-Situation.
Die Ausbildung habe ich vorzeitig abgeschlossen und direkt danach mit der Berufsfachschule weitergemacht. Nach deren Abschluss hatte ich die nächste Bildungsstufe erreicht und fing an, beruflich Neues auszuprobieren. Dass dabei auch mal etwas nicht optimal lief, brauche ich sicher nicht zu erwähnen. Doch insgesamt waren es positive Erfahrungen und ich fühlte mich zunehmend als vollwertiger Mensch. Als ich eine Führungsposition anstrebte, wurden mir allerlei Zusatzaufgaben übertragen, etwa die Betreuung von Auszubildenden oder Gästen aus dem Ausland. Das alles machte mir großen Spaß. Auch lernte ich fachspezifisches Englisch im Schnelldurchlauf und dazu jede Vokabel, die mir einfiel. Doch mein Vorgesetzter war ein Choleriker und irgendwann hatte er es auf mich abgesehen. Dadurch wurde ich immer öfter und länger krank.
Als Folge dessen kam mein erster Kontakt mit der Psychiatrie zustande. Da war ich noch voller Vorurteile darüber, wie oder was Psychiatrie ist. Natürlich konnten die mir nicht helfen! Das Problem war ja das Verhalten meines Vorgesetzten und der war nicht Teil der Therapie. So kam es, wie es kommen musste: Sämtliche nachfolgenden Therapieversuche scheiterten. Es ging mir zunehmend schlechter.
Es hat Jahre gedauert, aus diesem Tief wieder herauszukommen. Immerhin eine gute Sache hatte es: Ich fand währenddessen heraus, dass ich im Autismus-Spektrum bin. Das hatten all die Ärzte und Therapeuten, mit denen ich zwischenzeitlich zu tun hatte, nicht bemerkt. Das machte mich ein wenig stolz. Nachdem mein Verdacht offiziell abgeklärt und ein weiteres Mal bestätigt war, begann ich, Kontakte zu anderen Betroffenen zu knüpfen, und mich in der Selbsthilfe zu engagieren.
2015 habe ich zusammen mit der Mutter eines autistischen Jugendlichen die mutmaßlich erste Autismus-Jugendgruppe Deutschlands gegründet. Diese Gruppe erregte bei Fachkräften aus der Region einige Aufmerksamkeit. Denn wer autistische Kinder und Jugendliche in der Schule kannte und diese als nicht gruppentauglich wahrnahm, konnte sich schlecht vorstellen, wie eben solche jungen Menschen als Gruppe zusammenfinden sollten. Doch es funktionierte. Sehr gut sogar. Die Gruppe gibt es heute noch, nur heißt sie jetzt nicht mehr Jugend- sondern Junge Gruppe. Einige Teilnehmer sind schon von Anfang an dabei und inzwischen längst volljährig.
Gleichzeitig begann ich, mit autistischen Kindern und Jugendlichen im 1:1-Kontakt zu arbeiten. Meine Erfahrungen aus Kindheit und Jugend erwiesen sich dabei als überaus nützlich. Vor allem wenn den Betreffenden noch die Worte fehlen, um ihre Situation zu beschreiben, oder ich ahne, dass es um ein Thema geht, dass sie nicht ansprechen wollen. Dann kann ich mit einer Situation aus meinem eigenen Leben ein Gesprächsangebot schaffen, indem wir über mein damaliges Problem (und mögliche Lösungen) sprechen und nicht über das (vergleichbare) Problem des betreffenden Kindes. Im Gegensatz zu früher weiß ich heute sehr genau, wie ich soziale Kontakte herstellen kann. Und ich weiß, was der jeweilige autistische Mensch braucht, um sich sicher und wertgeschätzt zu fühlen. Die Kinder und Jugendlichen merken: da ist jemand, der wirklich versteht, worum es geht, und dem man nicht lange etwas erklären muss.
Dass ich mal eine soziale Tätigkeit haben würde, hätte ich früher nicht für möglich gehalten. Rückblickend war mein Leben alles andere als einfach. Aber die Erinnerungen und Erfahrungen, gute wie schlechte, sind unendlich wertvoll, wie ich heute weiß. So ist es nicht verwunderlich, dass meine Betätigungsfelder nicht nur meine Berufung sind, sondern eine Herzensangelegenheit.
Ein Happy End? – Ich hoffe noch nicht, denn ich bin ja quasi gerade erst erwachsen geworden und habe, so der Plan, noch einige gute Jahrzehnte vor mir!
Markus Behrendt, 2025
Wir freuen uns, dass Markus sich bereiterklärt hat, seine Geschichte mit uns zu teilen, um vielleicht auch anderen im Autismus-Spektrum zu helfen und Mut zu machen. In unserer Kategorie Mutmacher-Geschichten, kannst du weitere interessante Berichte von Menschen mit teilweise schwierigen Hintergründen finden.
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