post-title Viel Neues aus Südamerika

Viel Neues aus Südamerika

Viel Neues aus Südamerika

Große und kleine Kokospalmen vor blauem Himmel

Seit mehr als drei Jahrzehnten reist unser Mitglied Paulo, der Autor dieses Artikel, nach Brasilien und wird regelmäßig von diesem faszinierenden Land mitgerissen. Dieses Mal nimmt er ‚Menschen-in-Hanau‘ mit:

Was hat sich in 34 Jahren in Brasilien verändert??

Wir halten mit Vollgas auf die sanfte Kuppe der kleinen Düne zu, vor uns die volle Schönheit eines weiten, menschenleeren Strandes mit feinem Sand. Meiner Reisebegleitung fällt ein, einen Schlenker nach links zu machen und anzuhalten, um ein Foto zu schießen. Der Nachteil dieses Gedankens:  Wir fahren uns mit den profillosen Reifen im losen Sand fest. Rechts vor uns das Meer soweit das Auge reicht und links hinter uns die Spuren unseres Gefährtes im Sand. Das Adrenalin lässt uns unsere Umgebung als stillstehend wahrnehmen, obwohl es recht windig ist und die zahlreichen Kokospalmen sich pausenlos im Wind wiegen. Okay, der Genuss dieser Aussicht muss erst einmal zurückstehen vor der Aufgabe, unseren Buggy wieder flott zu bekommen. Während der nächsten Stunde verbrennt die Sonne unsere Haut, während wir in jeder Hinsicht vollkommen unvorbereitete Greenhorns nichts unversucht lassen, den Buggy aus seiner misslichen Lage zu befreien. Nach mehreren schweißtreibenden Anläufen bei 38°C und keiner Erfahrung mit dieser Situation schaffe ich es, den Buggy geradewegs zur Brandung hinunter zu steuern. Im Anschluss genießen wir die Fahrt entlang der Brandung und die diversen Badestopps in malerischer Umgebung umso mehr, die wir auf unserer kilometerlangen Fahrt am Strand einlegen.

Ein junger Mann geht um einen im Sandstrand festgefahrenen Buggy herum

Hier hilft nur noch mit den Händen graben und festes Material zum Unterlegen suchen

Das war 1990 im Nordosten Brasiliens, nördlich von Salvador da Bahía an der Ostküste Südamerikas.

In den letzten 34 Jahren ist viel passiert. Weltweit haben wir so viel CO2 in die Luft gepustet wie in den knapp 200 Jahren davor, seit der ersten industriellen Revolution. Brasilien hat sich in den letzten 50 Jahren stark entwickelt, die Städte sind unkontrolliert gewachsen und die Natur wurde grenzenlos ausgebeutet und verschmutzt. Heute ist es verboten, mit motorisierten Fahrzeugen an den endlosen Stränden zu fahren. Dieses Verbot ist ein Ergebnis des TAMAR Schildkrötenprojekts (Homepage nur auf Portugiesisch verfügbar – der Übersetzer des Browsers hilft weiter), das sich um den Schutz der bedrohten Meeresschildkröten kümmert. Der Erfolg dieses Projektes spricht für sich:

Statistik mit Schildkröteneiern in vier Säulen, die jeweils für eine Dekade stehen.

Seit dem Beginn des Projeto TAMAR im Jahr 1981 hat sich die Zahl der geschlüpften Schildkröten mehr als verzwanzigfacht. Die Kehrseite aller Anstrengungen dieser NGO ist die Symbiose, die die Schildkröten inzwischen mit der Vermüllung der Strände eingehen. Bevor sie die richtige Stelle für die Eiablage erreichen, müssen sie sich an Plastikmüll vorbeischleppen, welches das Meer nicht einbehalten hat, falls sie sich nicht zuvor darin verfangen haben.

Weier leerer Strand, im Vordergrund ist die Front eines Buggys zu sehen

Zum Vergleich noch einmal 1990: Das Schildkrötenprojekt gab es zwar schon, aber noch kein Verbot für das Befahren des Strandes mit motorisierten Fahrzeugen. Auffällig ist, dass weit und breit kein Müll zu sehen ist, weder vom Meer angespülter, noch hinterlassener Abfall. Positiv ist festzuhalten, dass die Strände weiterhin weitgehend menschenleer sind.

Dieses Land, das noch vor Australien auf Platz 5 der größten Länder der Erde rangiert, ist in jeder Hinsicht unglaublich vielfältig. Die Landschaft, die Klimazonen, die Flora und Fauna, die ca. 7.600 km Küstenlinie zum Atlantik, die Ethnien und die Einflüsse der Kolonialmächte ergeben einen unglaublich warmen, bunten und einladenden Mix, der mich seit meiner ersten Reise nach Brasilien 1990 in seinen Bann gezogen hat. Die gastfreundliche und warmherzige Bevölkerung, die zumeist aus sehr einfachen Verhältnissen kommt, teilt die eigene Lebensfreude mit jedem, der sich anstecken lässt. Das gilt besonders im Karneval und auch für das letzte Bier.

Es ist genau diese Lebensfreude, die viele Europäer nach Brasilien gelockt hat, um sich hier mit kleinen Pousadas (einfache Pensionen im Resort-Hotel-Stil) eine Existenz aufzubauen. Mit diesen Investitionen kamen auch neue Ideen für ökologische Nachhaltigkeit ins Land, die zunächst mit großer Skepsis zur Kenntnis genommen wurden und nur mit immensem bürokratischem Aufwand (und nicht selten dicken Briefumschlägen zwischen den Unterlagen als Entscheidungshilfe in den Amtsstuben) in Betrieb genommen werden konnten. Heute gibt es viele Nachahmer, die große Solaranlagen auf den Carports installiert haben, um Strom für ihre kleinen, familiär geführten Unterkünfte zu erzeugen. Auch Regenwasser wird gesammelt, was besonders in der Regenzeit hilft, die Herbergen dort mit Wasser zu versorgen, wo keine Trinkwasserqualität nötig ist.

Die soziale Nachhaltigkeit hat besonders in der Post-Corona-Zeit an Bedeutung gewonnen und bietet lokalen Gemeinschaften Jobs, Unterkünfte und damit eine bisher nicht gekannte soziale Sicherheit. Ähnlich wie in Europa hat der Personalmangel in der Hotellerie und Gastronomie dazu geführt, dass Anreize geschaffen werden mussten, um branchenfremdes Personal für den Tourismussektor zu gewinnen. In der Nähe größerer Resort-Anlagen gibt es mittlerweile Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dies ist sowohl revolutionär als auch problematisch: Bisher gab es kein soziales Netz für die Kinder der Angestellten. Auf der anderen Seite können sich viele die kostenpflichtigen Angebote nicht leisten.  Langfristig wird sich dies wahrscheinlich zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ändern, da auch in Brasilien die soziale Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnen wird. Wie bei vielen Entwicklungen außerhalb Europas auch, wird es jedoch deutlich länger dauern, bis Brasilien den hiesigen Status quo erreicht.

In einem ganz anderen Bereich können wir Europäer aber noch viel dazulernen. ‚Banco do Brasil‘ hat sich tatsächlich als weltweiter Vorreiter im Bereich der Nachhaltigkeit im Finanzsektor etabliert. Die Bank hat frühzeitig in lokale nachhaltige Projekte investiert und bietet mittlerweile eine Vielzahl von Finanzierungsoptionen für grüne Initiativen an. Zuletzt hat sie ein interessantes Angebot für Großgrundbesitzende entwickelt, das darauf abzielt, zugunsten des Schutzes von Ökosystemen auf eine kommerzielle Landnutzung zu verzichten. Solche Initiativen sind entscheidend, um die Umweltbelastung zu reduzieren und gleichzeitig wirtschaftliche Chancen für Großgrundbesitzende und Investoren zu schaffen. Die Bank schickt dafür Umweltspezialisten, die die Flora hinsichtlich ihrer Speicherfähigkeit von CO2 klassifiziert und aus dem Baumbestand CO2-Zertifikate generiert. Anschließend kümmert sie sich um die Vermittlung im Rahmen des Zertifikate-Handels über die eigens dafür gegründete Börse. Diese arbeitet mit internationalen Händlern zusammen, die diese Zertifikate an interessierte Unternehmen und Länder verkauft. Für die Landbesitzenden bleibt das alles kostenlos und es wird unkompliziert durch die Erhaltung der Ländereien Geld verdient. Durch solche Maßnahmen zeigt ‚Banco do Brasil‘, wie wichtig es ist, finanzielle Ressourcen mit ökologischen Zielen zu verknüpfen und einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft und die Umwelt auszuüben.

Dieses Jahr haben wir rund 1.200 km mit dem Auto durch Bahía zurückgelegt. Deutschland passt ca. 1,5 mal in den Bundesstaat Bahía. Die nach hiesigen Maßstäben vollkommen unzureichenden öffentlichen Verkehrsmittel machen die Fortbewegung mit dem Auto/Bus und den Transport mit dem LKW alternativlos. Die meisten Benziner-PKW werden seit 2003 als FFV’s (FlexFuel Vehicles) produziert, d.h. sie fahren mit Benzin oder Ethanol in beliebiger Mischung. Dieser Alkohol wird in Brasilien bereits seit den 1970er Jahren in rauen Mengen produziert. Es handelt sich dabei um einen erneuerbaren Kraftstoff, der aus Mais, Zuckerrüben oder Zuckerrohr hergestellt wird. Die Verbrennung verursacht deutlich weniger CO2 und andere Treibhausgase. In den Großstädten liegt oft eine Alkoholfahne in der Luft, die sich für uns Europäer ungewohnt und lustig anfühlt, weil man selbst gar nicht berauscht ist und trotzdem diesen Duft in der Nase hat.

Wegen der eingeschränkten Leistung ist Ethanol oft nur wegen des Preises eine Alternative. Benzin ist rund ein Drittel teurer, aber auch um diesen Faktor leistungsfähiger. Für die Qualität der Straßen ist der Kraftstoff Ethanol und die damit zur Verfügung gestellte Leistung jedoch vollkommen ausreichend. Die vielen Schlaglöcher, die oft sehr engen Kurvenradien, vor allem aber die ungezählten ‚Quebra Mola‘ (= frei übersetzt ‚Federungskiller‘ = Geschwindigkeitspoller) machen eine schnelle Fortbewegung ohnehin unmöglich. Für eine Strecke von 360 km braucht man bei Regenwetter etwa fünfeinhalb Stunden. Bei den Dimensionen dieses Bundesstaates ist man schnell einen ganzen Tag von früh morgens bis spät in die Nacht unterwegs, um ans Ziel zu kommen.

Doch zurück zum Tourismus. Mittlerweile sind es familiäre Gründe, die mich regelmäßig nach Brasilien führen. Auf jeder Reise entdecke ich etwas Neues. Dieses Mal waren es zwei Dinge:

Im 280-Seelen-Dorf ‚Santo Antonio‘ am Meer, in dem viele MitarbeiterInnen großer Resort-Hotels leben, wird die Mülltrennung merkwürdig wichtig genommen, was angesichts des Mülls am wilden Strand ein paar Meter weiter seltsam erscheint.

Kunstvoll gestaltete Mülleimer mit Schildern, was in welchen der beiden nebeneinanderplatzierten geflochtenen Eimern gehört; Aufforderung zur Nachahmung und zum pfleglichen Umgang mit der Umwelt

Mülltrennung mit Gebrauchsanweisung

Das Ziel ist jedoch die Sensibilisierung im Dorf, um die Vorbildfunktion in die Resort-Anlagen zu tragen. Dort gibt es auch viel nachhaltig hergestelltes Kunsthandwerk, das an die Touristen am Strand oder in den kleinen Kiosken in den Resorts verkauft wird.

Leider ist aber zu festzustellen, dass die Menschen in Brasilien in der Breite überhaupt keine Verantwortung für Müllvermeidung oder jegliche Art der Nachhaltigkeit erkennen lassen. Diese Themen gehören in die schulische Erziehung und fehlen dort vollständig. Private Initiativen sind hier wesentlich erfolgreicher und gleichzeitig unbeständig. Es bedürfte einer staatlichen Förderung, um diese Initiativen dauerhaft am Leben zu erhalten.

Die zweite positive Wahrnehmung waren die großflächig wiederaufgeforsteten Landstriche, die zumindest einen Teil der durch Brandrodung für Weideland und Plantagen verlorenen Urwälder kompensieren sollen. Die Urwälder Brasiliens sind ein Teil der Lunge unserer Erde. Der Verlust dieser Wälder ist in vielerlei Hinsicht dramatisch. Auch wenn die Wiederaufforstung notwendig und aller ehrenwert ist, bleibt sie weit hinter den abgefackelten Flächen zurück.

Am Ende wird es mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hinauslaufen, dass die Menschheit wegen der Klimakrise mit immer heftiger ausfallenden klimabedingten Katastrophen dezimiert oder in landesübergreifende Auseinandersetzungen um die letzten Ressourcen gezogen wird. Und wir Bewohner der Nordhalbkugel, die in der Hauptsache für den Klimawandel verantwortlich sind, verhalten uns in der Krise wie Kinder, die keinen Bock auf Hausaufgaben haben. Wir tun alle so, als würden wir in einer Realität leben, die es so gar nicht mehr gibt, obwohl wir genau wissen, was zu tun wäre. Aber wir lassen es aus Bequemlichkeit, Trägheit, Willensschwäche und ungezählten anderen hanebüchenen Gründen sein. Manche setzen auf den technischen Fortschritt, aber leider hilft ChatGPT bei globalen Katastrophen nicht. Es kommt auf die/den Einzelne/n an, auf jede/n Einzelne/n.

Apropos Kinder: Die Zukunftsaussichten unserer Kinder und deren Nachkommenschaft ist mit Sorge zu betrachten, weil sie mit Situationen fertig werden müssen, die dystopischer sind, als wir uns heute vorstellen können. Und auf der Südhalbkugel sind die Menschen genau so wenig darauf vorbereitet, wie unsereins in Europa. Noch haben wir die Mittel zum Aufräumen, dort aber fehlen sie schon jetzt. Den Umgang damit können wir unseren Kindern nicht beibringen, weil wir selbst keine Erfahrung damit haben. Aber es ist schon sehr eigenartig, dass die Lebenserwartung im medizinischen Sinne weltweit immer größer wird, während die ökologischen und degenerativen Folgen unserer verantwortungslosen Wachstumsgedanken bis in viele Generationen der Zukunft hineinreflektieren werden.

Zum Abschluss noch etwas Kurioses:

Im Flusstal des Jiquiriçá im Hinterland des Bundesstaates Bahía, ca. 340 km südwestlich der Hauptstadt Salvador, liegt das 11.000-Seelen Städtchen Santa Inês. Der Ort hat einen berühmten Sohn hervorgebracht, den Paläo-Künstler Anilson Borges. Der Bürgermeister fand die Werke des Künstlers famos und unterstützte Borges mit Zeit und Geld für die Produktion der im Stadtgebiet aufgestellten Skulpturen von Dinosauriern in Lebensgröße. Zunächst noch als Mitarbeiter im öffentlichen Dienst der Stadt gestaltete Borges die Repliken im Auftrag der Stadt. Mittlerweile ist die Hauptbeschäftigung tatsächlich der zunehmenden Nachfrage für seine Werke gewidmet, die den 47-jährigen (Facebook-Seite auf portugiesisch) aus ganz Brasilien, aber auch aus dem Ausland erreichen.

Inspiriert von dieser Kreativität ist 2023 dieses Video entstanden, welches das Stadtbild von Santa Ines einfängt:

Ich hatte Gelegenheit, den Paläo-Künstler zu einem Interview zu treffen. Demnächst mehr dazu hier bei ‚Menschen in Hanau‘.

Große Halle mit gelben Säulen und einem Wellblechdach.

Dinosaurierfabrik

Kommende Veranstaltungen - barrierefrei und inklusiv

Loading…
Skip to content

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden. Die Erklärung gilt für 3 Monate. Mehr Informationen zum Thema Cookies kannst du in unserer Datenschutzerklärung einsehen.

Schließen