Ja, das stimmt. Das schlimmste am Stottern ist die Angst davor. Da möchte ich was sagen, aber ich sage es nicht, denn ich weiß, dass ich dabei stottern werde. Also sage ich lieber nichts.
Die Angst verstärkte das Stottern und das Stottern verstärkte die Angst. Das nahm mir jedes Selbstvertrauen. Wenn ich sage, was ich sagen will, dann kostet mich das viel Überwindung und größte Anstrengung. Es ist so, als ob ich etwas sehr Schweres vom Keller in den ersten Stock tragen muss. Auch dabei ist die Angst, dass es mir aus den Händen fällt.
Bekomme ich eine Zustimmung, tritt etwas Erleichterung ein, bekomme ich Kritik, spreche ich gar nicht weiter, weil es einfach viel zu schwer wird.
Bei meinem Stottern hatte ich immer das Gefühl, dass es mir den Hals zuschnürt. Es fehlte die Luft zum Sprechen. Auch wenn ich erst mal „tief Luft geholt“ habe, hat mir das nicht geholfen. Ich habe angefangen Tagebuch zu schreiben. Aber Worte, hingeschrieben auf ein Blatt Papier, die keiner liest, sind Worte, die ohne jede Reaktion bleiben. Manchmal hat ein Brief eine Reaktion hervorgerufen. Worte müssen ankommen beim anderen. Ich will ihm ins Gesicht schauen können. Ich will sehen, dass er mich anschaut, auch wenn ich den anderen nicht anschaue, damit ich besser sprechen kann.
Aus Angst vor dem Stottern habe ich oft gar nichts gesagt. Das Stottern nahm mir jegliches Selbstbewusstsein, da wurde ich auch schnell zum Opfer. Eingeschult wurde ich in eine Sprachheilschule, die ging aber nur bis zur 4. Klasse. Das Stottern verhinderte die höhere Schule. Nach 40 Jahren hatten wir ein Klassentreffen. Eine Schulfreundin sagte zu mir: „Ich habe dich sofort erkannt an deinem schönen Lächeln“. Sie erinnerte sich nicht – wie ich – an die Sprachstörung, sondern an mein Lächeln. Ist das nicht schön?
Mit 20 Jahren war ich wegen der Störung beim Arzt. Von ihm bekam ich den Rat mich mal richtig zu besaufen, dann könnte ich auch frei sprechen. Diesen Rat habe ich nicht befolgt.
Wenn andere meine angefangenen Sätze vervollständigt haben und dies in meinem Sinne war, war ich erleichtert, wenn ich nur noch „ja“ sagen musste. Meistens war es aber so, dass die Vervollständigung nicht in meinem Sinne war, dann wurde es noch schlimmer und die Angst noch größer. „Sei doch nicht so nervös!“, „erst mal das Gehirn einschalten und dann reden“, „wenn du weißt, was du sagen willst, dann kannst du wieder kommen!“
Es war nicht einfach einem Gespräch mit mir zu folgen und für mich war es nicht einfach dieses Gespräch überhaupt zu führen. Ich entwickelte feine Antennen dafür, wer mir zuhören kann und wer nicht. Ich wählte meine Gesprächspartner*innen sorgfältiger aus. Wenn nicht über mich gelacht wurde, sondern wenn wir gemeinsam lachen konnten, war das unglaublich entspannend.
Alle, die eine Behinderung haben (oder auch nicht), haben viele andere gute Eigenschaften und diese Eigenschaften muss man fördern und herausheben. Wer nicht fließend sprechen kann, kann auf jeden Fall singen. Das Singen hat mich ganz und gar erfüllt, leider hatte ich wenig Gelegenheit dazu. Alle Menschen, die stottern, können singen. Wie groß die Freude ist zu singen kann ich gar nicht beschreiben.
Ich brauchte dringend ein Ventil, um mich auszudrücken, sonst wäre ich daran erstickt. Für mich war es das Schreiben und die Kreativität. Besonders das Schreiben hat mir geholfen, aber ich wollte mehr.
Ich kann für mich sagen, dass das Stottern eine Angststörung ist. Ich musste die Angst besiegen, nicht das Stottern. Eine logopädische Behandlung kam für mich nicht in Frage, denn im Grunde meines Herzens wusste ich, dass ich die Angst besiegen muss. Bei der logopädischen Therapie lernt man nur, wie man das Stottern überwinden kann mit sogenannten „Hilfswörtern“ oder Atemtechniken. Die Hilfswörter entdeckte ich selbst für mich. Es half auch Bewegung. Im Sitzen mit den Händen und den Füßen, besser noch im Zimmer auf und ab laufen, aber das besiegt die Angst nicht.
Ich habe viele therapeutische Bücher gelesen, war in vielen therapeutischen Sitzungen verschiedenster Art. Das Beste war eine Reha mit dem Schwerpunkt „Selbstsicherheitstraining“. Das war sehr schwer für mich, aber hilfreich. Ich wollte eine Verlängerung und hatte deswegen einen Termin beim Chefarzt. „Was ist das, wovor sie noch die meiste Angst haben?“ fragte er mich. „In einer Gruppe einen ungeübten Text vorlesen“ war meine Antwort. „Wenn sie das machen, dann wird die Reha um 14 Tage verlängert“. Ich las diesen Text in der Gruppe vor mit heftigem Herzklopfen und zitternden Händen und natürlich stotterte ich dabei. Danach hatte ich das Gefühl einer großen Befreiung und durfte noch 14 Tage bleiben.
Es war nicht die eine Therapie oder die eine Überwindung der Angst, die mich fast ganz vom Stottern befreite. Es waren viele Dinge und es dauerte Jahrzehnte. In der letzten Therapie erklärte mir die Therapeutin, dass das Stottern meine innere Wächterin ist. Sie erinnert mich daran, dass es gerade zu viel ist für mich. Sie erlaubt mir mich aus der Situation zu entfernen. Eine Wächterin, wie schön. Hast Du auch eine?
Es grüßt Euch herzlich Beatrix
http://www.stottern-hessen.de/
Und zum Abschluss hat Bea uns noch ein schönes Gedicht geschickt:
Reden ist Silber
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ich habe schweigen niemals gewollt
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ich fühle, dass was in mir grollt
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ich drücke den geladenen Colt
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Jetzt kommen fast zehntausend Volt
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ich sehe wie die Kugel rollt
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ist es das, was ihr von mir wollt?
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ich habe das niemals gewollt
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Ich hätte lieber reden gesollt
Vielen Dank liebe Bea, dass du uns an deinen Erfahrungen teilhaben lässt. Ich finde es beeindruckend, wie du es geschafft hast dieses „Manko“ (wenn man es denn so nennen darf) zu überwinden!