Durchbeißen, ausdribbeln, Tore schießen – Almas großer Traum: Die Stürmerin will Profi-Fußballerin werden. Die 14-Jährige, die seit ihrem zweiten Lebensjahr eine Hörprothese trägt, weiß genau, was sie will. Und hat einen Plan B, falls sich ihr Traum nicht erfüllt: Physiotherapeutin. Deshalb ist sie nicht nur auf dem Spielfeld motiviert, sondern auch im Unterricht an der Johannes-Vatter-Schule in Friedberg.
HANAU/FRIEDBERG. 9.50 Uhr in der achten Klasse der Johannes-Vatter-Schule, deren Träger der Landeswohlfahrtsverband Hessen ist: Bruch- und Prozentrechnen steht auf dem Lehrplan. Die drei Mädchen und zwei Jungs sitzen in einer Reihe. Sie brauchen freie Sicht auf die Gesichter ihrer Mitschüler und ihrer Lehrerin. Bevor Christiane Koch mit dem Unterricht beginnt, koppelt sie zunächst die Hörhilfen ihrer Schüler mit ihrem Mikrofon. Alma Syla und ihre Freundin Ahlam tauschen sich aus – mit Gebärden.“Die Klasse ist sehr gemischt. Hier sind Kinder mit einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung, bei denen der Schall zwar ankommt, aber die Verarbeitung des Gehörten nicht so gut funktioniert. Dann haben wir Schüler mit einer relativ leichten Hörschädigung und zwei Kinder, die Cochlea Implantate tragen. Dazu zählt Alma“, berichtet die Pädagogin. Die Jugendlichen hören nicht nur, sondern beobachten auch Mundbild und Gebärden der Klassenlehrerin.
IN CHEMIE KLASSENBESTE
Alma ist in Mathe gut, auch wenn sie lächelnd gesteht, dass „natürlich Sport und Kunst“ ihre Lieblingsfächer sind. Begeistern kann sich das Mädchen aus Hanau auch für Chemie. „Da bin ich Klassenbeste“, erzählt sie munter. Deutsch und Englisch fallen nicht nur Alma schwer. Das Sprachverständnis leidet bei fast allen Kindern mit Hörstörung. „Das wirkt sich aber auch auf Mathematik aus, weil häufig Textaufgaben gestellt werden. Und ich kann natürlich nur Dinge erklären, wenn die Schüler nichts aufschreiben oder durchlesen, sondern mich ansehen. Sonst bekommen sie vieles nicht mit“, schildert die Lehrerin den Unterrichtsalltag. Das kostet Zeit, die normal hörenden Schülern für den Lernstoff bleibt.
Alma hat als Kleinkind das Gehör verloren. Die genaue Ursache ist unbekannt. Sicher ist nur, dass dem Hörverlust eine Mittelohrentzündung vorausging, die mit Medikamenten behandelt wurde. Die Eltern, die aus Bosnien und dem Kosovo stammen, entscheiden sich für ein sogenanntes Cochlea Implantat (CI), eine Innenohrprothese. „Ihre Eltern unterstützen Alma nach Kräften und achten sehr darauf, dass zu Hause Deutsch gesprochen wird. Dennoch: Deutsche Grammatik ist nicht einfach. Und Gebärdensprache hilft da leider wenig. Denn sie hat eine komplett andere Grammatik“, erläutert Christiane Koch.
BEIM FUSSBALL KEINE BARRIEREN
Beim Fußball hingegen gibt es für das Mädchen keine Barrieren: Alma spielt in der Fußball-AG der Johannes-Vatter-Schule mit Hörbehinderten ebenso wie im Verein in Groß-Auheim mit normal hörenden Jugendlichen. „Ich spiele auch mit den Jungs aus der Nachbarschaft. So hat es vor drei Jahren angefangen mit dem Fußballfieber“, erzählt sie strahlend. Beim Fußball trägt sie ein Stirnband, das ihre Hörhilfe vor dem Verrutschen schützt. In der Fußball-AG spielen Jungen und Mädchen gemischt, ihr Team in Groß-Auheim hingegen ist ein reines Mädchenteam. Was ihr am Fußball gefällt? „Das Ausdribbeln, das Tore schießen, das ist lustig“, strahlt Alma. Und wie kommt sie klar mit ihren hörenden Mitspielerinnen? „Manchmal sprechen sie schon etwas schnell. Aber ich verstehe einzelne Wörter, zum Beispiel ‚Flanke‘, und weiß dann, was sie meinen „, schildert sie lebhaft. Ihr Vater liebt es, seine Tochter über den Platz sprinten zu sehen. „Ich habe auch einen jüngeren Bruder, aber der mag Fußball gar nicht. Der spielt lieber mit Bauklötzchen“, schmunzelt sie. Die Stürmerin mit dem Stirnband wurde schon von Talentsuchern angesprochen. Alma träumt zwar von einer Karriere im Profi-Fußball. Doch sie hat sich auch eine Alternative überlegt: „Ich kann mir gut vorstellen, Physiotherapeutin zu werden. Büroarbeit ist nichts für mich, dafür bewege ich mich zu gerne und massiere auch sehr gut. Das sagt jedenfalls meine Familie“, grinst sie frech.
GEBÄRDEN HELFEN IHR IM UNTERRICHT
Entsprechend ist der Teenager nicht nur auf dem Fußballplatz motiviert, sondern auch in der Schule. „Alma ist seit diesem Schuljahr aus einer Klasse mit dem zusätzlichen Förderschwerpunkt Lernen in die Hauptschulklasse gewechselt. Wir haben gesehen, wie leistungsstark sie ist und dass sie die Chance hat, den Abschluss zu schaffen“, betont ihre Klassenlehrerin. Für die 14-Jährige ist es wichtig, dass die Lehrer das Gesprochene mit Gebärden unterstützen. „Ich verstehe so besser, was gesagt wird, weil die Information praktisch doppelt bei mir ankommt. Wenn ich müde bin und die Konzentration nachlässt, höre ich gar nicht zu, sondern registriere nur die Gebärden“, schildert Alma. An einer Regelschule könnte das pfiffige Mädchen deshalb dem Unterricht kaum folgen.
Christiane Koch hat am Whiteboard zwei mögliche Lösungswege für eine Mathe-Aufgabe notiert. Alma runzelt die Stirn, beugt sich vor und stützt den Kopf in ihrer Hand auf. „Alma, das ist dein zweiter Strich, da ist bald wieder Kuchen fällig“, ermahnt die Lehrerin lachend. „Ich mag Kuchen“, antwortet die 14-Jährige fröhlich. Ein kleines Ritual in dieser Klasse: „Jeder von uns tut bestimmte Dinge, die nicht so toll für den Unterricht sind. Wenn ich mich auf dem Tisch aufstütze, kann Ahlam den Schülern, die links von mir sitzen, nicht ins Gesicht sehen. Wenn Frau Koch vergisst, ihr Mikro anzuschalten, können wir sie nicht verstehen. Für solche Dinge gibt es Striche. Und bei einer bestimmten Anzahl von Strichen bringen wir Kuchen mit“, erzählt Alma. Fühlt sie sich wohl hier? „Ja, sehr. Wir lachen viel. Aber die Klassenkameraden aus der alten Klasse vermissen mich natürlich – und ich sie auch ein bisschen.“ Was sie sich wünscht? „Mehr Sportunterricht, zwei Stunden pro Woche sind viel zu wenig.“ Stört sie etwas an der Schule? Sie lacht kurz: „Klar. Ich hasse es, wenn wir zu viele Hausaufgaben bekommen.“
Den Hauptschulabschluss hat sich Alma als festes Ziel gesetzt. „Wenn es gut läuft, will ich auch den Realschulabschluss machen“, fügt sie hinzu. Ihre Klassenlehrerin schätzt Almas Chancen gut ein – „wenn sie sich Zeit lässt“. In Englisch werde das Mädchen womöglich „nicht ganz vorne mit dabei sein“. Und der Realschulabschluss? „Auch da hat Alma Chancen, wenn sie eine Berufsfachschule absolviert. An der Johannes-Vatter-Schule geht das jedoch nicht, weil wir für die Bereiche Metalltechnik, Wirtschaft und Verwaltung qualifizieren. Das passt nicht zu ihrem Berufswunsch“, so Christiane Koch. Für Familie Syla bedeutet dies weitere Wege. Aber wer wie Alma Spaß daran hat, sich durchzubeißen und so viel Unterstützung von der Familie bekommt, für den ist auch das zu schaffen.
Autorin Stella Dammbach
HINTERGRUND
GESCHÜTZTER RAHMEN FÜR HÖRGESCHÄDIGTE
Die Johannes-Vatter-Schule ist ein Beratungs- und Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Hören. Zu den Aufgaben der Einrichtung, deren Träger der Landeswohlfahrtsverband Hessen ist, zählt die Frühförderung ebenso wie die schulische Bildung und die Begleitung beim Übergang in den Beruf. „Wir unterstützen auch viele Schüler mit Hörschädigungen an Regelschulen. Unsere Schüler hier in Friedberg brauchen jedoch den geschützten Rahmen, um einen Schulabschluss zu erreichen“, berichtet Christiane Koch, Abteilungsleiterin Hauptstufe der Johannes-Vatter- Schule.
Die Lernziele im Haupt- und Realschulzweig entsprechen denen der Regelschule. Auch die Abschlussprüfungen sind identisch. „Eine Ausnahme ist der Hör-Verstehenstext in Englisch. Unsere Hauptschüler bekommen diesen Text zeitlich begrenzt am Whiteboard gezeigt und beantworten danach die Verständnisfragen“, schildert Christiane Koch.
COCHLEA IMPLANTAT – SO FUNKTIONIERT’S
Alma hört mithilfe eines Cochlea Implantats (CI). Diese Innenohrprothese wandelt Schall in elektrische Impulse um, die den Hörnerv in der Hörschnecke des Ohrs reizen. Der Hörnerv leitet diese Reize ans Gehirn weiter. Dazu werden bei einer Operation Elektroden ins Innenohr und eine Empfangsspule in den Schädelknochen hinter dem Ohr eingesetzt. Auf der Kopfhaut sitzt der Audioprozessor, der die akustischen Signale der Umwelt aufnimmt und drahtlos an den Empfänger im Schädelknochen übermittelt. Eine Batterie versorgt das CI mit Energie. Außerdem wird regelmäßig überprüft, ob das CI noch richtig arbeitet.
Quelle: LWV Hessen, Autorin Stella Dammbach, Fotograf Rolf K. Wegst.