Das Modellprojekt Inklusion der Stadt Hanau ist ein lebendiger Organismus, aus dem neue Projekte entstehen. Die Keimzelle ist die inklusive Webseite „Menschen in Hanau“, an der Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen mitarbeiten. Gehörlose sind nicht dabei. Denn keiner im Team spricht die Gebärdensprache. Von den Lippen abzulesen ist für Gehörlose sehr anstrengend, vor allem in einer lebhaften Gruppe. Bei größeren Veranstaltungen im Rahmen des Projekts hat die Stadt eine Gebärdensprachdolmetscherin engagiert. Doch im Alltag bleiben Gehörlose oft unter sich – auch in Hanau. Andrea Freund versucht seit 2016 Brücken zu bauen in die Welt der unsichtbaren Behinderung.
Alexandra Cremer: Was war der Auslöser für Ihr Engagement für Gehörlose?
Andrea Freund: Bei unserer Menschenkette im April 2016 waren Schauspieler der Brüder-Grimm-Festspiele dabei. Und dabei kam bei mir die Frage auf, wie inklusiv, sprich barrierefrei, ist die Veranstaltungsreihe eigentlich? Ein wenig später stellte ich diese Frage dem Leiter des Festspielbüros, Konrad Kurjak.
Cremer: Wie war seine Antwort?
Freund: Bisher gibt es lediglich reservierte Plätze für Rollstuhl-Fahrer.
Mir begegnet es im Dialog mit anderen Menschen immer wieder, dass Barrierefreiheit oft nur mit Mobilität verbunden wird: abgesenkte Bordsteine im Straßenraum und an Bushaltestellen, ebenerdige Zugänge zu öffentlichen Einrichtungen, tastbare Rillen und Noppen auf Gehwegen zur Orientierung für Blinde und Sehbehinderte, Blindenschrift auf dem Bedienfeld von Fahrstühlen.
Cremer: Und wie kommen nun die Gehörlosen in Spiel?
Freund: Ich habe bei evangelischen Kirchentagen erlebt, dass kulturelle Veranstaltungen von Gebärdensprachdolmetschern begleitet werden, um auch Gehörlosen die Teilhabe zu ermöglichen. Und ich fragte mich, ob so etwas auch bei den Brüder-Grimm-Festspielen möglich ist. Denn ich hatte erfahren, dass der Gehörlosenverein Hanau und Umgebung großes Interesse hat, eine Märchenaufführung zu besuchen. Er zählt immerhin fast 100 Mitglieder.
Cremer: Wie war die Reaktion?
Freund: Ich traf zu meiner Freude auf offene Ohren, besonders bei Konrad Kurjak. Und auch der Intendant Frank-Lorenz Engel gab sein O.K. Der Regisseur Jan Radermacher war sofort Feuer und Flamme. Er inszeniert das Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“. Am 16. Juli wird nun die Aufführung um 15 Uhr von Gebärdensprachdolmetscherinnen begleitet.
Cremer: Gibt es „Kultur inklusiv“ auch in anderen Orten in Hessen?
Freund: Nur sehr überschaubar. Bei meiner Recherche im Internet bin ich auf das Staatstheater Wiesbaden gestoßen, das für Gehörlose bei Bedarf Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung stellt. Das Literaturhaus Frankfurt bietet seit 2016 einige Lesungen mit Dolmetschern an.
Cremer: Wie haben Sie das Hanauer Angebot in der Gehörlosenszene bekannt gemacht?
Freund: In Hessen gibt es rund 7000 Gehörlose. Sehr viele organisieren sich in Gehörlosenvereinen. Dort habe ich die Information platziert, außerdem auf der bundesweiten Gehörlosen-Plattform www.taubenschlag.de.
Cremer: Wie war die Resonanz?
Freund: Vor Weihnachten habe ich die Mails verschickt. Anfang Februar waren alle 40 reservierten Plätze verkauft. Das hat ehrlich gesagt alle überrascht. Das Festspielbüro hat daraufhin das Kartenangebot nochmal um 20 erhöht. Mehr Plätze sollen nicht ausgewiesen werden. Das Bereich, in dem die gehörlosen Zuschauer sitzen, ist beschränkt. Sie brauchen vorne eine gute Sicht auf die Dolmetscherinnen. Die beiden Frauen werden rechts vor der Bühne stehen und die Aufführung simultan mit Gebärden übersetzen.
Ich bin gespannt, wie das von den Zuschauern wahrgenommen wird. Gehörlosen gehören am 16. Juli ganz selbstverständlich dazu. Das ist für mich Inklusion. Teilhaben an der Gesellschaft, in der es normal ist, verschieden zu sein.
Hier geht es zum Bericht über das neue Angebot bei den Brüder Grimm Festspielen:„Eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten“