post-title Mein „Coming-Out“ – von Silvia Schäfer

Mein „Coming-Out“ – von Silvia Schäfer

Mein „Coming-Out“ – von Silvia Schäfer

Mein „Coming-Out“  – von Silvia Schäfer

Schon als Kind war mit meinen Augen etwas nicht in Ordnung. Das stellte man in der Grundschule fest. Ich konnte plötzlich nicht mehr fließend lesen und an der Tafel nichts mehr erkennen.

Die Verschlechterung meiner Sehkraft ging schleichend, aber kontinuierlich voran. Im Teenager-Alter hatte ich noch ein Sehvermögen von etwa 10 %. Später ging es weiter bergab. Heute kann ich nur noch hell und dunkel unterscheiden und alles ein wenig schemenhaft erkennen.

Da ich sehr langsam in die Sehbehinderung hineingewachsen bin, legte ich mir ganz automatisch bestimmte Strategien und Tricks zu, mit denen ich meinen Alltag und meinen Beruf meistern konnte. Alles klappte einigermaßen gut. Mit abnehmendem Sehvermögen gab es aber immer mehr Probleme mit meiner Mobilität oder beim Einkaufen. Am meisten belastete es mich jedoch, dass es immer schwieriger wurde soziale Kontakte zu knüpfen.

Ich konnte Menschen, die mir begegneten nicht erkennen, dementsprechend auch nicht grüßen. Das brachte mir den Ruf ein, eingebildet, stur oder verbissen zu sein. Klar, gab es Situationen im Straßenverkehr, bei denen ich mich für ahnungslose Mitmenschen sicherlich reichlich komisch verhalten habe.

Ich hatte nie Scheu, über meine Sehbehinderung zu sprechen. Aber es gab natürlich nicht die Chance, jeden einzelnen Mitbürger in der Kleinstadt, in der ich damals wohnte, aufzuklären.

Um einen weißen Blinden-Langstock zu nutzen, fühlte ich mich mit meinen 2% Sehrest noch viel zu sehend, zumindest in Gegenden, in denen ich mich gut auskannte.

In fremden Regionen, in großen Bahnhöfen und verstärkt auch in Dämmerung und Dunkelheit fiel es mir aber zunehmend schwerer, sicher meinen Weg zu finden. So entschloss ich mich dann doch, ein sogenanntes Orientierungs- und Mobilitätstraining anzugehen. In einer solchen Ausbildung lernt man, sich mit dem Blindenlangstock sicher in jeder Umgebung zu bewegen.

Für meinen Heimatort meinte ich, das Training nicht zu brauchen. Ich entschloss mich daher, es extern in einem zweiwöchigen Kurs durchzuführen.

Im Januar 2005 ging es los. Ich lernte von einer ausgebildeten Lehrerin für Mobilität und Rehabilitation den Umgang mit dem weißen Stock.

Meine Absicht war, den Stock – später nach meiner Heimkehr – nur abends im Dunkeln oder an fremden Orten zu benutzen. Ich kämpfte mit einer ziemlichen Scham und war nicht bereit, mich in meinem Wohnort zu „outen“.

Nach wenigen Tagen merkte ich, welch gewaltige Vorteile mir dieser Stock brachte. Das Gehen durch eine Fußgängerzone war viel entspannter. Ich musste nicht mehr unter höchster Konzentration und Anspannung darauf achten, andere nicht anzurempeln oder jemanden zu treffen, denn ich grüßen sollte. Meine Mitmenschen achteten nun auf mich und machten mir Platz. Autos hielten zu 90 %, wenn ich an einem Straßenrand stand und ließen mich überqueren, ob es nun einen Zebrastreifen gab oder nicht. Das Betreten eines fremden Geschäftes war leicht geworden. Nach kürzester Zeit kam jemand auf mich zu und fragte nach meinen Wünschen. Auch wenn ich an einer Bushaltestelle oder am Bahngleis stand, kamen immer nette Menschen ungefragt auf mich zu und boten Hilfe an. Ich erlebte eine große Hilfsbereitschaft von allen Seiten und begann, mich mit meinem neuen Hilfsmittel anzufreunden.

Drei Tage vor dem Ende des Trainings traf ich dann den so wichtigen Entschluss, den Blindenstock auch in meinem Wohnort zu nutzen. Oh, das war gar nicht einfach! Ich hatte in den ersten Tagen richtig Bauchweh, wenn ich in die Stadt zum Einkaufen oder zur Arbeit gegangen bin. Ich erwartete von meinen Mitmenschen, dass ihnen nun ein Licht aufginge. Sie würden verstehen, warum ich mich immer so vermeintlich komisch verhalten hatte. Ich sah das als Chance, nun Aufklärung zu betreiben. Ich war ziemlich sicher, dass mich viele ansprechen würden. Aber dies geschah nicht. Ich muss sagen, das enttäuschte mich sehr und machte auch ein wenig traurig.

Heute denke ich, dass meine Mitmenschen mindestens genauso verlegen und beschämt waren wie ich. Nur aus der Unsicherheit heraus kamen keine Gespräche zustande.

Natürlich gab es hie und da Kommentare wie zum Beispiel: „Wo ist denn Ihr zweiter Nordic-Walking-Stock?“ oder: „Was machen Sie denn da? Ist das eine Wünschelrute?“ – und ähnliches mehr.

Dies gab mir aber wenigstens die Chance, über den Sinn des weißen Langstockes aufzuklären. Das tat ich dann natürlich gerne.

Vor nunmehr 6 Jahren bin ich nach Hanau gezogen. Hier habe ich noch einmal ganz andere Reaktionen auf den Stock erlebt. Die Menschen sind noch viel offener und hilfsbereiter, als ich es vorher erfahren habe. Kaum bleibe ich irgendwo stehen dauert es kaum eine Minute, bis nicht jemand freundlich fragt, ob man mir helfen könne. Selbst Autos haben schon neben mir gehalten, um mir Hilfe anzubieten. Ganz besondere Hilfsbereitschaft erfahre ich sehr oft von ausländischen Mitmenschen. Ich bin immer wieder überwältigt und sehr dankbar dafür.

Heute ist der Langstock seit nunmehr fast 12 Jahren mein ständiger Begleiter. Ich kann nur jedem Sehbehinderten empfehlen, auch einmal über ein Mobilitätstraining nachzudenken.

Gebt anderen die Chance, frühzeitig euer Handikap zu erkennen. Schafft euch selbst mehr Sicherheit im Straßenverkehr und vor allem mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit!

 

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