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Hanau war kein Einzelfall

Hanau war kein Einzelfall

Auf weißem Hintergrund sind einzelne weiße Puzzlestücke.

Rechte Kontinuitäten in Hessen und Deutschland

Im Gespräch mit: Ayşe Güleç und İbrahim Arslan

Unser zweiter Termin in unserer Reihe Was NUN? hatte den Schwerpunkt, die Kontinuitäten und Mechanismen rechter und rassistischer Gewalt aufzuzeigen. Hanau und alles was die Betroffenen und Familien nach dem Anschlag erfahren haben, war eben kein Einzelfall. Es war keine Ausnahme, keine Abweichung eines sonst reibungslos funktionierenden Systems, dass marginalisierte Gruppen beschützen sollte.

Bereits in unserem letzten Gespräch mit Ceren Türkmen, haben wir Muster kennengelernt, denen Menschen, mit Migrationsgeschichte nach solchen Gewalttaten ausgesetzt sind.

Der Anschlag in Mölln

Einer unserer Gäste war İbrahim Arslan. Es ist Überlebender des neonazistischen Brandanschlags in Mölln von 1992. Seine traumatische Erfahrung, die er mit uns geteilt hat, ging allen Anwesenden nahe. Was die ohnehin grauenvolle Erfahrung schlimmer macht, ist das Wissen, das die Tat hätte verhindert werden können. Die Täter und die Gefahr, die von ihnen ausging war bekannt. Trotzdem wurde nichts unternommen. Die Polizei ließ damals zu, dass sie nach mehreren gescheiterten Angriffen auf Asyl-Unterkünfte, ein Wohnhaus anzünden konnten, bei dem drei Menschen getötet und eine ganze Familie für immer traumatisiert wurde.

Bei dem Trauma sollte es aber nicht bleiben. İbrahim erzählt von Schikanen durch Behörden und Bewohner:innen in Mölln, Beschuldigungen, das Feuer selbst gelegt zu haben und dass seine Familie gezwungen wurde wieder in das durch Traumata belastete Haus einzuziehen, nachdem es saniert wurde. Es gab keine psychologische Betreuung oder echte Zeit zum Trauern.

Auch der Täter in Hanau war bei den Behörden bereits bekannt und auch bei diesem rassistischen Anschlag bleiben nach über einem Jahr viele Fragen offen.

Wie ist die Stadt Mölln mit dem Anschlag umgegangen?

İbrahim beschrieb, dass die Stadt Mölln den Anschlag möglichst schnell überwinden wollte. Womit nicht gemeint ist, dass sie versucht haben den Rassismus aufzuarbeiten, der zu der Tat geführt hat. Vielmehr wurden symbolische Gedenkveranstaltungen organisiert, allerdings ohne die Betroffenen einzubeziehen.

„Der Umgang mit Opfern von rassistischer Gewalt folgt auch einer Kontinuität.“

Ihre Perspektiven und Bedürfnisse waren für das Bild nach Außen anscheinend nicht notwendig. Was zumindest die Botschaft sendet, dass es mehr Interesse am Image der Stadt gab, als an den Menschen, für die eine solche Veranstaltung angeblich stattfindet. Unter dem Motto reclaim and remember organisieren die Betroffenen seit 2013 daher eigene jährlich stattfindende Gedenkveranstaltungen, die „Möllner Rede im Exil“ – parallel.

Ein handschriftlicher Brief füllt das Bild. Auf dem Papier liegt ein Füller und eine Blume mit lila Blüten.

Das unsensible Verhalten gegenüber den Betroffenen setzt sich für die Familie Arslan bis heute fort. Nach 27 Jahren mussten sie erfahren, dass die Stadt Solidaritätsbekundungen und Hilfsangebote nie weitergegeben hat. Persönliche Gegenstände aus dem Wohnhaus der Familie wurden nach dem Anschlag nicht an die Familie zurückgegeben, sondern für Ausstellungen entwendet. In beiden Fällen gibt es Weigerungen, diese zurückzugeben. Aufklärungsarbeit, Aufarbeitung, Rechtsstreitigkeiten – dies sind alles Dinge, die retraumatisieren und nicht nur Zeit und Energie, sondern auch finanzielle Ressourcen fordert. Deshalb ist es wichtig, dass sich Initiativen gründen, damit die Hilfe direkt dort ankommt, wo sie hingehört.

Strukturen erkennen

Was Mölln mit Hanau gemeinsam hat, ist der Widerwille die Tat offen als Rassismus zu benennen. Die Debatten und Berichte, die seit dem 19.2. und auch schon lange davor zu dem Thema geführt wurden zeigen, dass es, gerade in der deutschen Medienlandschaft, eine große Hürde gibt, rassistische Taten als solche zu bezeichnen. Wenn diese Komponente nicht komplett ignoriert wird, liest man eher von Fremdenfeindlichkeit oder ähnlichem.

„Der Hauptteil der Traumatisierung passiert für die Familien nach dem Anschlag, durch respektlosen Umgang und Ignoranz“

Was ebenso beobachtet werden kann, ist oft das Fehlen der Namen der Opfer in der Berichterstattung. #saytheirnames ist kein zufällig gewählter Slogan. Denken wir nur an die NSU Prozesse. Die Namen der Täter:innen sind bekannt und werden immer und immer wieder genannt. Aber wer könnte die Opfer benennen? So kann eine Identifikation mit den Opfern nicht stattfinden. Erinnerung und Gedenkkultur sind ungemein wichtig. Sie funktionieren aber nur, wenn die Perspektiven der Betroffenen sichtbar gemacht werden.

Es braucht Engagement

Rassistische Anschläge wie in Mölln oder in Duisburg, die sich in der Kontinuität seit dem zweiten Weltkrieg bewegen, brauchen einen hohen Grad an Eigenengagement, um in Erinnerung zu bleiben. Organisationen und Vereine, wie die Initiative 6. April in Kassel, in der unsere zweite Rednerin Ayşe Güleç aktiv ist oder die Bildungsinitiative Ferhat Unvar in Hanau sind daher für echte Erinnerungskultur sehr wichtig. İbrahim selbst leistet unter anderem seit 2017 Bildungsarbeit an Schulen, um durch die Perspektive von Betroffenen für diese Realitäten zu sensibilisieren und damit die Empathielücke zu schließen.

Wenn es uns mit Anti-Rassismus in unserer Gesellschaft ernst ist, müssen wir von Betroffenen lernen und ihnen zuhören. Das fängt bereits im Schulunterricht an. Themen wie Migration, Gastarbeiter:innen, Opfer von Antisemitismus und (Post)kolonialer Rassismus wird noch viel zu oft – wenn überhaupt – aus der Perspektive der weißen Mehrheitsgesellschaft betrachtet. Das ist eine gewaltige Bildungslücke, die wir aufarbeiten sollten. Sprache, Geschichte und Narrative im Alltag sorgen dafür, dass sich unsere Wahrnehmung verändert. Wir vergessen häufig, dass Anschläge und Gewaltverbrechen nur das extreme Ende von Rassismus sind. Beim Alltagsrassismus fängt es an und genau an dieser Stelle scheitert in Deutschland bereits die Debatte. Um echte Veränderung zu erreichen, braucht es die Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit und den eigenen verinnerlichten Rassismen auseinanderzusetzen.

Ein offener Aktenschrank, in der eine Person eine Akte sucht ist zu sehen.

Zusammenhänge

Rassismus hat nicht mit dem Anschlag in Hanau angefangen. Für viele Rassismuserfahrungen haben wir heute Begriffe und Definitionen, die es beispielsweise in den 60er Jahren noch nicht gab. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Gastarbeiter:innen diese Erfahrungen nicht gemacht haben oder sich noch nicht gegen sie gewehrt haben.

„Über Rassismus kann nicht ohne den Widerstand dagegen besprochen werden.“

Und auch hier dürfen wir nicht vergessen, dass Rassismus nicht erst stattfindet, wenn jemand angegriffen oder getötet wird. Dieser findet auf vielen Ebenen statt. Wer nicht selbst von Rassismus betroffen ist, nimmt oft nicht wahr, wie z. B. in Medien über Migration gesprochen wird oder wie Menschen, mit einer Migrationsgeschichte in Filmen bis hin zu Schulbüchern als Anders konstruiert werden.

Vergleichen wir, wie unterschiedlich über rechten oder islamistischen Terror berichtet wird. Bei rechter Gewalt, wie auch beim Anschlag von Hanau oder bei den Ermittlungen in Mölln, wird von Einzeltäter:innen gesprochen. Eine mögliche Struktur wird dadurch unsichtbar, wodurch das Netz um die Täter:innen geschützt wird. Bei der Berichterstattung solcher Anschläge kommt es noch heute vor, dass Opfer, durch Schlagzeilen wie „Döner-Morde“ / „Shisha-Morde“ entmenschlicht werden. Die Taten werden außerdem dadurch verharmlost. Solche Titel finden sich bei Anschlägen, die auf eine mehrheitlich weiße Gruppe verübt werden nicht.

Halit Yozgat

2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internet-Café in Kassel ermordet. Unsere Referentin Ayşe erläuterte in unserer Runde, dass zu dem Zeitpunkt innerhalb von sechs Jahren neun Menschen, an belebten Orten, innerhalb ihrer eigenen Community ermordet wurden – mit der selben Waffe. Nach Täter:innen mit rassistischem Motiv wurde nicht ermittelt, sondern die Familie und Freunde selbst kriminalisiert (Täter:innen-Opfer-Umkehr). Als NSU-Morde sind sie uns durch eine starke mediale Berichterstattung heute allen ein Begriff.

Enver Şimşek

Abdurrahim Özüdoğru

Süleyman Taşköprü

Habil Kılıç

Mehmet Turgut,

İsmail Yaşar

Theodoros Boulgarides

Mehmet Kubaşık

Halit Yozgat

Diese Morde dienten der Verunsicherung des gesamten Umfeldes und knüpften an eine rassistisch geprägte Asylpolitik an. Das politische Klima ist immer ein Indikator für die erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber marginalisierten Gruppen. Der NSU hatte dabei genug Vorbilder (z.B. Rostock-Lichtenhagen) als sie sich in den 90er Jahren „unbeobachtet“ politisieren konnten.

Bedeutung heute

Nicht nur der Anschlag in Hanau, sondern auch die Droh-Mails des NSU 2.0 und der Mord an Walter Lübcke in Kassel zeigen, dass rechte Kontinuitäten weiter wirksam und weiterhin gefährlich sind. Der Täter, der Lübcke ermordet hat, gehörte z.B. in das Netz, dass 2006 bereits die NSU-Morde begangen hatte. Weitere Morde hätten mit einer zielgerichteten Ermittlung also verhindert werden können.

Wenn Initiativen, wie die in Kassel nicht selbst aktiv ermitteln würden und Informationen einfordern würden, wären viele Dinge gar nicht bekannt.

Mögliche Maßnahmen, um lückenlose Aufklärung zu betreiben oder Rassismus-Studien in der Polizei werden noch immer abgeblockt oder verhindert. Die Akten der NSU-Prozesse werden für 120 Jahre gesperrt. All das sind Signale, die vermitteln, dass kein Interesse an Aufklärung und Veränderung besteht. Hier sind wir als Gesellschaft gefragt. Wir müssen Druck ausüben und als kritische Bürger:innen für Aufklärung und Veränderung kämpfen.

Auf dem Bild sind zwei Männer in Rückenansicht. Ihre Köpfe und Beine sind nicht zu sehen. Der Fokus liegt auf den haltenden Händen. Ein Mann ist weiß, ein Mann ist Schwarz.

Solidarität

Die Opferfamilien in Hanau können auf die Erfahrung der Betroffenen anderer Anschläge, mit ähnlichen Erfahrungen zurückgreifen. Dieses Netzwerk aus Solidarität ist wichtig, um diese Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren und ein Gesamtbild zu sehen.

„Es ist unsere gesellschaftliche Aufgabe, uns zu Erinnern“

Als Zivilgesellschaft gibt es viele Möglichkeiten, wie wir unsere Solidarität zeigen können.

Was können wir als Zivilgesellschaft tun:

  • Sich zu den Opfern stellen, nicht dahinter (verstecken, vorschieben) oder davor (unsichtbar machen)
  • Zuhören, hinsehen
  • Solidarität zeigen
  • Den Betroffenen das Gedenken überlassen und nur unterstützen
  • Nicht darauf warten, dass Betroffene aktiv werden, aber miteinbeziehen, wenn man etwas organisiert
  • Kämpfe bündeln und Verbindungen sehen – Vernetzen
  • Nicht Vereinzeln / isolieren lassen
  • Sich gegenseitig stärken
  • Hartnäckig bleiben
  • Nicht nur auf einen „Hype/Trend“ aufspringen

Fazit:

Rassismus und seine Auswirkungen können nicht mit symbolischen Gesten aus unserer Gesellschaft verbannt werden. Es steckt in unseren Strukturen und unseren Systemen, also müssen wir auch dort ansetzen, wenn es eine nachhaltige Veränderung geben soll. Bis wir an diesem Punkt sind, ist es wichtig, dass wir die Organisationen, die bereits heute wichtige Bildungsarbeit leisten unterstützen und uns mit ihnen solidarisieren.

LINKS:

Weitere Hinweise und Empfehlungen:

  • Filme: der zweite Anschlag; der Kuaför aus der Keupstrasse; Nach dem Brand
  • Bücher: Die Angehörigen; Schmerzliche Heimat; Drei Episoden zum NSU „Bruchlinien“
  • Theater: die NSU-Monologe; Die Lücke; Die Asyl-Monologe
  • Ausstellungen: die Opfer des NSU; Spot de Silence; DOMiD
  • Initiative Ouri Jallouh
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