Lässt uns die Pandemie Zeit für andere Themen?
Bei unserem 3. digitalen Diskussions-Abend ging es um den rassistisch motivierten Anschlag vom 19.02.2020, den niemand aus Hanau so schnell vergessen wird – oder doch? Kaum einen Monat später lässt die COVID-19 Pandemie die ganze Welt den Atem und den Alltag anhalten. Wo es zuvor gemeinsame Trauer und Mahnwachen gab, heißt es nun Abstand halten – social distancing.
Keine*r von den Teilnehmenden war von dem Anschlag direkt betroffen, daher ging es an diesem Abend nicht darum für die Hinterbliebenen zu sprechen oder Vorträge zu Rassismus und seine Folgen zu halten. Wir haben die Fragen bewusst auf eine persönliche Ebene gebracht. Was haben die Morde bei uns ausgelöst? Wie haben sie unseren Alltag beeinflusst? Was wurde uns dadurch bewusst? Was müssen wir ändern? Die Diskussion war von Beginn an voller Respekt und Betroffenheit. Bei allen war der Wille, es besser zu machen, deutlich zu spüren. Alle waren sich einig, es ist allerhöchste Zeit für ein Umdenken.
Welche Gefühle hatten wir als nicht-direkt-Betroffene?
Der Anschlag, bei dem 9 Hanauer*innen ermordet wurden, deren Familien einen Migrationshintergrund haben, war für die Teilnehmenden ein Schock. Wer hätte sich je vorstellen können, dass so etwas ausgerechnet in Hanau, vor der eigenen Haustür passieren kann? Diese Tat ging wie eine Welle durch Hanau und hat Ratlosigkeit, Erschütterung, Unsicherheit und Angst zurückgelassen.
Aber war es wirklich überraschend? Für einige aus der Runde, war es nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein rassistischer Angriff stattfinden würde. Die Tatsache, dass es am 19.02. in Hanau dazu kam, ist dabei ein Zufall.
Direkt nach dem Anschlag, haben alle ein hohes Maß an Menschlichkeit und Nähe wahrgenommen. Wir haben gemeinsam getrauert, als Gesellschaft, als Menschen. Und doch waren wir anders betroffen. Wir konnten entscheiden, uns zurückzuziehen, uns nicht damit zu befassen. Bei vielen hat es den Anstoß gegeben, sich stärker mit Rassismus und auch Antisemitismus in Deutschland zu beschäftigen.
Die Nähe der Morde hat bei einigen ins Bewusstsein geholt, dass es leicht uns selbst, unsere Kinder oder Freunde hätte treffen können – nur weil das Gesicht nicht „deutsch“ aussieht oder mensch sich zufällig in einer Shisha-Bar aufhielt. So ein Trauma muss erst verarbeitet werden, doch die Pandemie hat uns nicht richtig zur Ruhe kommen lassen. Die Aufarbeitung für die betroffenen Familien und Freunde, für Augenzeugen und alle, die damit in Berührung kamen konnte nicht richtig stattfinden.
Dabei stellte sich in unserer Diskussion die Frage: Wie konnte jemand mit diesem Gedankengut, mit diesem Gewaltpotential und mit behördlich registriertem Waffenbesitz nicht auffallen? Hätte das Umfeld etwas mitbekommen müssen oder können? Wurde es vielleicht verharmlost und nicht ernst genommen? Was bedeutet das für uns? Wie können wir unseren Blick schärfen und auf Missstände aufmerksam machen, bevor sie zu Angriffen und Anschlägen werden?
Das gefährliche und irrationale an Rassismus ist, dass es den Hassenden nicht um Kultur geht oder darum, dass sich Menschen aus anderen Ländern nicht an eine deutsche Kultur anpassen könnten. Als Migrant*in kann man noch so sehr an die Gesellschaft angepasst sein, aber mit einer anderen Hautfarbe oder Physiognomie gilt man, für solche Menschen, nie als zugehörig. Sie unterscheiden dabei auch nicht, ob jemand in Deutschland geboren und sozialisiert wurde.
Ab wann ist Integration eigentlich abgeschlossen?
Benachteiligungen und Diskriminierungen finden nicht immer offen statt. Anschläge und Hassreden sind nur die Spitze des Eisbergs. Um wirklich dahinter zu kommen, wo sich Rassismus überall findet, müssen wir unsere Strukturen und unser eigenes Verhalten und Denken genau untersuchen. Darunter fallen Dinge wie Vorurteile, unbegründete Polizeikontrollen, Schulmaterial, das problematische Bilder und Wörter enthält, homogene Machtstrukturen (öffentliche Ämter, Vorstände in Unternehmen, Schul-Gremien etc.) oder auch Absagen auf Bewerbungen, weil der Name nicht „deutsch“ klingt. Diese Strukturen können wir beeinflussen.
Die Definition von Integration ist laut Duden u.a. „Die Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit“. Wenn man aber der Politik und anderen öffentlichen Personen zuhört, entsteht oft der Eindruck, als ginge es hier nur um eine einseitige Anpassung : „Neubürger*innen haben sich zu integrieren“. Wie soll das aber aussehen? Gibt es überhaupt ein einheitliches Gesamtbild einer angeblich „deutschen“ Kultur? Ein Bayer und ein Hamburger unterscheiden sich beispielsweise ebenso wie eine Sächsin und eine Rheinländerin. Und warum sollten sich nur Zugezogene integrieren? Sie haben eine eigene Kultur und sind Deutsche. Das wirft außerdem die Frage auf: Ab wann ist man denn „fertig“ integriert? Gibt es da ein Ziel? Wer entscheidet das? Und was ist mit den Menschen, die in Deutschland geboren wurden und trotzdem Rassismus-Erfahrungen machen?
Die Diskutierenden waren sich einig: Es sollte möglich sein, dass die eigene Herkunft und Kultur erhalten bleiben und mit dem Leben hier verbunden werden können. Wir sollten zu einer „und-Mentalität“ kommen, anstatt an einer „oder-Mentalität“ festzuhalten, nur weil es bequemer ist, anderen die Verantwortung zu geben sich zu ändern und anzupassen.
Ebenso sollte es selbstverständlich zu unseren Werten gehören, dass alle Kulturen respektvoll miteinander umgehen und alle Menschen gleichwertig sind, unabhängig von ihrer Herkunft. Denn das Gesicht von Deutschland ist ein vielfältiges.
Betreuung und Beratung – Robert Erkan berichtet
Nach über 100 Tagen läuft die Aufarbeitung des 19.02.2020 noch immer auf Hochtouren. Robert Erkan koordiniert für die Stadt Hanau die zentrale Opferberatungsstelle und weiß aus erster Hand, wie intensiv diese Zeit war und noch immer ist.
Seit dem Anschlag haben sich viele Organisationen aktiv eingebracht und vernetzt, um Betroffenen zu helfen und das Thema Rassismus konkret anzugehen. Zur Betreuung der Familien hat sich u.a. die Initiative 19. Februar gegründet, der es darum geht, Zivilcourage zu zeigen und einen Beitrag zu leisten, damit die Opfer und der Grund, weshalb sie ermordet wurden, nicht vergessen werden.
Da es weder für solch einen Anschlag noch für die Pandemie-Maßnahmen fertige Konzepte und Pläne gibt, kann man nur einen Schritt nach dem anderen machen. Für Robert Erkan stellt sich auch die Frage, wie Trauerarbeit mit social distancing funktionieren soll.
Aktuell wird eine zentrale Anlaufstelle organisiert, die zur Aufarbeitung und Aufklärung genutzt wird. Denn Aufklärung ist jetzt sehr wichtig. Alltags-Rassismus ist kein Problem, das es nur in den USA gibt. Die rassistischen Anschläge beispielsweise in Halle oder Wächtersbach haben immer wieder deutlich gezeigt, dass wir auch in Deutschland ein Problem mit strukturellem und institutionalisiertem Rassismus haben. Dieser muss aufgearbeitet werden, bevor ein Umdenken stattfinden kann.
Aber lässt uns die Pandemie überhaupt Zeit dafür und was passiert eigentlich danach?
Wie geht es nach Corona weiter?
Nach über zwei Monaten lockdown , wird der Wunsch nach „Normalität“ immer lauter. Aber war unsere Situation vorher wirklich „normal“ und ist uns unsere sogenannte „Normalität“ wichtiger als die Erinnerungskultur?
Seit den Lockerungen kann man, keine 50m von der Gedenkstätte auf dem Marktplatz, ausgelassen seinen Cappuccino trinken und vergessen, was für andere noch Alltag und Realität ist; das war eine der Beobachtungen der Diskutierenden. Die Anteilnahme und das Interesse, die direkt nach dem Anschlag spürbar waren, wurden von Corona überlagert. Scheinbar war, zusammen mit der Presse, das öffentliche Interesse weg. Dass so kurz hintereinander zwei traumatische Ereignisse unsere Stadt getroffen haben ist eine starke Belastung. Bei vielen kommen Unsicherheiten und existentielle Ängste hinzu. Doch gerade deshalb sollte man eine Zeit nach der Pandemie mitdenken.
In der Diskussions-Runde wurden Ideen genannt, wie wir es schaffen können, die Opfer sichtbar zu halten und den Rassismus in Hanau und in ganz Deutschland dauerhaft zum Thema zu machen.
Für viele in der Runde ist beispielsweise das umfunktionierte Brüder Grimm Denkmal auf dem Marktplatz immer wieder eine Erinnerung. Da die Bilder, Texte, Kerzen usw. ständig erneuert werden, lebt das Denkmal und man kann sich darauf besinnen, dass es noch nicht vorbei ist. Wir können und müssen etwas tun.
Was können wir tun, um unsere Solidarität zu zeigen und etwas zu verändern?
Wir müssen von einem Leben nebeneinander zu einer Kultur des Miteinander kommen. Was können wir also konkret tun, um den Kontakt untereinander zu fördern und Begegnungen möglich zu machen?
Es beginnt bereits damit zu überlegen, wie wir uns im Alltag verhalten können, wenn uns Rassismus begegnet. Aus dem Kreis der Teilnehmenden kamen viele Fragen, wie der beste Umgang sei, wenn beispielsweise Menschen, wegen ihres Migrationshintergrunds belästigt werden. Uns fehlt die Übung, solche Dinge offen anzusprechen. Das kann jede*r lernen. Menschen, die glauben, andere herabsetzen zu können, müssen direkt merken, dass es für uns als Gesellschaft nicht akzeptabel ist. Diese Verantwortung tragen wir alle, also müssen wir lernen zu widersprechen. Wenn wir schweigen sind wir stille Teilhabende. Unsere Haltung ist, wenn wir sie offen zeigen, für andere eine Inspiration und Bestätigung.
Ein weiterer hilfreicher Hinweis war, dass man sich bei solchen Situationen auf die Belästigten konzentrieren sollte und nicht auf die Angreifenden. Wir können Hilfe anbieten, Fragen, was die Person gerade braucht, Begleitung anbieten usw. Es ist vor allem wichtig zu zeigen, dass wir hinter den Betroffenen stehen und auf ihrer Seite sind – man kann das Gefühl vermitteln, dass sie nicht alleine sind. Da dies für viele eine Hemmschwelle ist, kann es helfen, wenn man sich bereits Sätze vorbereitet und übt, damit man sie direkt abrufen kann, wenn sie gebraucht werden.
Was kann ich als Einzelperson tun? Impulse und Ideen aus der Diskussions-Runde:
- Sich selbst und andere für Rassismus sensibilisieren
- Eigenen (unbewussten) Rassismus verlernen
- Rassismuskritische Arbeit
- Sich weiterbilden
- Haltung zeigen und sich von rassistischen Äußerungen abgrenzen
- Probleme ansprechen
- Leute auf ihr Fehlverhalten hinweisen – ohne sie anzugreifen
- positive Arbeit zu Anti-Rassismus teilen und sichtbar machen
- Veränderungskultur fördern
- VHS Kurse/ Weiterbildungs-Angebote nutzen
- Workshops besuchen
- Mit anderen darüber sprechen
- Begegnungen schaffen
- Keine Fake-News verbreiten
- im eigenen Freundes- und Familienkreis Impulse geben, Fakten und Quellen zu prüfen, bevor Inhalte geteilt werden
- keine Verharmlosung von strukturellen Problemen
- Antidiskriminierungs-Stellen, Gleichstellungs-Beauftrage und andere Positionen nicht ausschließlich mit weißen Deutschen besetzen, die keine Qualifikation haben
- die eigenen Privilegien erkennen und sie nutzen, um andere sichtbar zu machen und ihnen eine Stimme zu geben
- statt Hass mit Hass zu beantworten, Fragen stellen und Aufklären – besonders jüngere Menschen wieder abholen
- auch online immer sachlich und höflich auf Kommentare reagieren, damit sie nicht einfach so stehen bleiben
- Dafür stark machen, dass das Mahnmal zum 19.02. ein Ort der Begegnung wird, der uns näher zusammenrücken lässt
- Dafür sorgen, dass Entscheidungen mit den Betroffenen zusammen getroffen werden und nicht über deren Köpfe hinweg
- Voneinander lernen
- Ohne Kompromisse zeigen, dass wir eine bunte Gesellschaft sind und sein wollen
Wie können wir Organisationen unterstützen, die bereits etwas tun?
- Persönliches Engagement
- Spenden
- Förder-Mitgliedschaften
- Social-Media-Kanäle + Website teilen
Zusammenfassung
Die Diskussion war für alle Beteiligten bereichernd und lehrreich und wir konnten bei weitem nicht alle Themen besprechen, die uns wichtig waren.
Deshalb hat das Orga-Team von „Menschen in Hanau“ beschlossen, den nächsten Diskussions-RAUM mit dieser Thematik fortzusetzen. Den Veranstaltungshinweis und eine Beschreibung dazu (wird am Sonntag, 21.06.2020 eingestellt) findet ihr hier
Wie ist eure Meinung zum Rassismus in Hanau? Was kann die Stadt Hanau tun (oder stärker tun), um strukturellen Rassismus anzugehen? Wir sind neugierig auf eure respektvollen Kommentare.
Zum Weiterlesen /Weiterschauen:
- Exit Racism – Tupoka Ogette
- Was Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten – Alice Hasters
- Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche – Reni Eddo-Lodge
- Carolin Kebekus – Brennpunkt: Rassismus
- Anne Will – Sendung vom 07.06.20
Diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann in den Kommentaren gerne ergänzt werden.